Ohne Abschied – immer auf der Flucht und hört wohl niemals auf. Wer findet noch Zeit, sich zu verabschieden, wenn es brennt, wenn Tod und Verderben Ernte halten wollen. Flucht und Vertreibung, seit die Menschen sesshaft geworden sind. Man kann den Verstand darüber verlieren.
Lesen Sie eine Kurzgeschichte, hinter der man die ganze Frustration einer belogenen und betrogenen Jugend spüren kann. Diese Kurzgeschichte aus meinem Buch Zeitbrücke endet mit einem Zitat von Wolfgang Borchert. Ich will das hier gleich an den Anfang stellen, damit Sie nicht darauf warten müssen, um zu erfahren, warum ich diese Kurzgeschichte geschrieben habe.
»Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens. Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre.«
– Wolfgang Borchert: Generation ohne Abschied
Trümmerliteratur nannte man nach 1945 seine Art, zu schreiben. Ein Etikett, das abfällig daherkam, denn mit „Damals“ wollte man nichts mehr zu tun haben. Damals war nun von gestern. Das hatte zur Folge, dass weite Teile der Bevölkerung in Unwissenheit und Schweigen verfielen. Ja, sie haben schon gesprochen bei ihren „Weißt-du-noch-damals Familienzusammenkünften“, aber leise, wenn wir Kinder herumlungerten, wenn sie merkten, dass wir unter dem Tisch saßen. Oberflächlich, etwa: Wie habt ihr rausgemacht aus Königsberg? Und habt ihr gehört, was mit Trudchen passiert ist? Wir Kinder und Enkel wurden im Ungewissen gelassen. Wir sollten nicht mit dem ganzen Schlamassel aufwachsen, in der neuen Heimat. So als würde man eine alte, gegen eine „Neue Heimat“ tauschen.
Diese Kurzgeschichte ist meine bittere Abrechnung, gewidmet all jenen, denen die Kindheit, die Jugend gestohlen wurde. Die Bindungslosen, die Ohnewurzeln. Die, die kein Morgen und kein Gestern kennen. Die, für die das Wort „Heimat“ einen bitteren Beigeschmack hat, denn man kann nicht mehr zurückgehen zum „Damals“. Emotional hat man es nie verlassen.
Georges Danton und auch Johannes Bobrowski stellten diese Frage, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen:
Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?
Hildegard Knef singt von ihrem Koffer in Berlin, während Marlene Dietrich wissen will: Where have all the flowers gone? und Heine es so besungen hat:
In der Fremde … es treibt dich fort von Ort zu Ort, du weißt nicht mal warum…
und… ich hatte einst ein schönes Vaterland.
In meinem ersten Buch: Ermland-Blues, ein Heimat- und Liebesroman, können Sie dies lesen:
… dass „man so gern meecht bleiben und muss doch fort“.
Ein Blues vom niemals Ankommen. Ein Blues vom Fortgehen.
Leseprobe aus der Kurzgeschichte „Ohne Abschied“
Flucht. Entferne den letzten Buchstaben und du hast die Essenz des Wortes Flucht. Kein Abschied von nichts und niemandem. Immer in Bewegung. Scheinbar ziellos, ohne das Verlangen anzukommen. Keine Vergangenheit. Keine Ankunft. Immer auf dem Weg in die Zukunft. Kaum an einem Ort angekommen, gewinnt Unruhe die Oberhand und ab zum nächsten Ziel. Permanente Fluchtreflexe. Flucht statt Abschied. Heimlich, sozusagen. Bei Nacht und Nebel, sozusagen.
Väter, Mütter, wir sind die Trümmerlebenden, die, die eure Ruinen verschluckt haben. Ruinen, die eure Generation uns in den Weg geschüttet hat und die uns zu Gefühlsruinen wurden. Wir sind die, die eure seelischen und körperlichen Versehrtheiten aushalten mussten.
Wir sind die, die in das Leben hineingeworfen wurden, ohne Kompass, weil euch, Mütter und Väter, die Moralwegweiser und mit ihnen jegliche Orientierung abhandenkamen.
Väter, Mütter, wir, eure Nachkommen, fragen euch, klagen euch an. Warum habt ihr den Verführern, den Verderbern der Menschlichkeit zugejubelt?
Väter, warum habt ihr den Mächten der Finsternis gehorcht? (…) Und wir schreiben auf eure Fenster und an eure Mauern: Ihr hattet einst ein schönes Vaterland.
(…)Lesen Sie auch meine Erzählung von alten Männern, die keine Zukunft mehr haben. (Manche von ihnen machen sich auf ihren letzten Weg und gehen ohne Abschied).
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Zeitbrücke – Geschichten zwischen Damals und Heute
Buch | Softcover
230 Seiten – 2024
Hans Blazejewski (Autor)
978-3-7583-7390-9
18,00 €
Hier bestellen, bitte: Sichtweise-Verlag
Perfekte Lektüre für Zwischendurch: Die Kurzgeschichten in "Zeitbrücke" sind ideal für kleine Lesepausen um sich eine Auszeit zu gönnen und in andere Welten einzutauchen.
Zum Inhalt
Dieses Buch führt Sie über die Zeitbrücke zur Spurensuche an Orte aus der Kindheit des Autor, bis hin in die Jetztzeit, festgehalten in sechsundvierzig wunderbaren Erzählunge, Geschichten und Geschichtchen, unter anderem von
- einem Heiden, der am Kreuz verbrannt wird,
- einem Bahnhof und Pustekuchen, dem Vorsteher,
- einem Familientreffen am Jenseitslagerfeuer,
- einer Geisterorgel, die eine Bachfuge spielt,
- einem Badewannenmörder, der freigesprochen wird,
- einem Totenhemd, das kratzt,
- einem Dichter, den niemand kennt,
- einem Liebespaar, das am „Standesunterschied“ scheitert,
- einer Ménage-à-trois, bestehend aus Adonis, Aphrodite und Persephone,
- Ruth – einem Mehrfachbild über Opfer und Täter in der Nazizeit,
- Maria, wie sie hren Kopf verlor,
- einem Deutschen und wie es ihm erging als er in Paris ein Franzose sein wollte,
- einer Fischjagd in Polen,
- Männern in Zwangsjacken,
- einem Tortenparadies,
- einer bemehlten Großmutter,
- Claire, die Sommersprossen, rote Haare und einen göttlichen Busen hatte,
- einem gehörnten Liebhaber.