Foto Hans Blazejewski 2011 – Anleger in Panemune/Übermemel im Hintergrund die ehemalige Luisenbrücke vor dem Uferpanorama von Tilsit/Sowetsk/RU
Tilsit – Gedanken zu „Ruth“, damit beginnt die Einleitung zu diesem Sittengemälde.
Das Konzept, erdacht auf der anderen Seite der ehemaligen Stadt ohne Gleichen, die nicht mehr Tilsit sein darf. Eine (Zeit)Brücke, die man einst Luisenbrücke nannte. Blick hinüber. Übern Strom. Das Uferpanorama vom heutigen Sowetsk. Links, hinter der Brücke, von Betongebilden verborgen das Haus, in dem ich aufrecht zu gehen begann.
Eine Fantasiegeschichte über mein Geburtshaus, von dem ich nichts weiß, außer dem, was in einer Urkunde nachzulesen ist. Ich war dort, in der Ballgardenstrasse 23, während meiner zwei Reisen in den Kaliningrad Oblast in 2009 und 2011. Keine Erinnerung. Kein Wiedersehen mit mir. Nur ein Vergleich mit einem alten Foto von vor 1944 mit dem, was ich vorfand: fremde Menschen – fremde Sprache.
Also habe ich mein Geburtshaus auf meine Weise zum Leben erweckt. Das Böse der damaligen Zeit ist darin eingeflossen. Herrenmenschen. Nazis. Krieg. Die Schmerzen einer Mutter, deren Söhne nicht mehr zurückkommen. Gefallen wären sie. Nachrufe für gefallene Helden, die blieben liegen und liegen da nun für immer, weil sie nicht mehr aufstehen können, weil sie hingefallen, totgefallene sind, die vorher ganz lebendig waren und dann nicht mehr. Und die Mutter, die drei tote Helden beklagen musste, die einst ihre ganz lebendigen Kinder waren, ist mit jedem ihrer drei Söhne mitgestorben, wurde kleiner und kleiner, weil die Trauer, das Leid, ihr Tod, sie so niedergedrückt hat, dass sie nicht mehr aufrecht leben mochte. Und die Söhne sind für das Vaterland und die Ehre gefallen, als ob einer mal so zufällig hinfällt und der gleich wieder aufstehen wird. Gestorben für ein ehrloses Vaterland.
Judentorte – eine Verhöhnung der Opfer
Ausgrenzung. Unwertes Leben. Verfolgung der Juden. Johannes Bobrowski nennt »seine Juden« fast zärtlich »die ganze Judenheit«. Und da sind die grausamen, verrohten, gewaltbereiten Individuen. Die lachen, wenn ein Mensch ertrinkt, und ihn noch schuldig sprechen, weil er die angebliche Volksmeinung missachtet habe. Herzlose Erklärung um Ruths Verschwinden. »Judentorte«, eine Verhöhnung der Opfer der unfassbaren Naziverbrechen. Negieren der Verantwortung. Schuldig sind immer die anderen. Autors Fremdschämen.
Das Ende: die Nachrede. Vier Strophen. Die erste die Fakten berichtend. Fast wie eine Zeitungsmeldung. Roh. Herzlos. Scheinbar wertfrei. Deutsch korrekt. Die anderen Verse, eine Adaption von Wolfgang Dachstein »An Wasserflüssen Babylons«. Anmerkung: In der gedruckten Fassung meines Buches schrieb ich dies: Die anderen Verse, eine Adaption Paul Gerhardts Choral „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“. Das ist so nicht haltbar. Ich zitiere Wikipedia: An Wasserflüssen Babylon sind die Anfangsworte eines Chorals der Reformationszeit. Während der Text heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, ist die Melodie bis heute durch Orgelstücke und mit dem Text des Paul-Gerhardt-Chorals Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld (EG 83) verbreitet.
Als Autor fühle ich mich schuldig. Ein Autor hat die Macht, seine Figuren zu formen, will ich glauben. Oder ist es so, dass die Figuren, wenn sie denn einmal erdacht wurden, ihr Eigenleben entwickeln, auf die der Autor nicht einwirken kann? Ich fühle mich schuldig, weil Ruth am Ende meiner Erzählung ertrinkt, ich sie nicht retten wollte, vielleicht nicht konnte.
Ruth. Entsorgt wie junge Katzen im Sack und Steine dazu und zugebunden und ab ins Wasser. Das macht Geräusche. Geräusche kann man hören. Ein Mensch ruft um Hilfe, auch das kann man hören, mehr noch, man kann sehen, wenn man nicht grad mit Wegsehen beschäftigt ist, warum einer um Hilfe ruft. Was dem Strom gegeben, das gibt er nicht mehr frei. Der Strom verschluckt sich ein wenig. Rülpst kleine Strudel und tut, als sei nichts gewesen. Nun lebt Ruth in meinen Gedanken fort und das ist nicht lustig. Ach Lämmchen, »fern an fremden Ufern beweine ich deinen Untergang«.
Reden wir noch vom Salomon Honigbaum, der, wenn er noch etwas hätte sagen dürfen, mir gewiss – augenzwinkernd – zugeflüstert hätte:
»Man meecht so gern bleiben und muss doch fort«.
Jahre, später, schon im sogenannten goldenen Westen, bei einer Familienfeier. Eine von diesen »Weißt-du-noch-damals-Begebenheiten«. Es gab Judentorte. So nannten sie den Kuchen, der aus Butterkeksen und Schokolade bestand. Schicht um Schicht. Immer im Wechsel. Und obendrauf daumendicker Zuckerguss, der das Darunterliegende unsichtbar machte. Dieser Name weckte in mir die Erinnerung an Ruth. Auf Nachfrage nach ihrem Verbleib und ihrem Schicksal gab es ein langes Schweigen der sonst so beredsamen Verwandten. Schließlich erbarmte sich jemand und erzählte »Ja, weißt du, damals, das mit den Juden, das haben wir alle nicht gewusst. Und der Führer wird es ebenfalls nicht gewusst haben, was mit denen gemacht wurde. Das war nicht schön. Aber war ja Krieg.«
Der Führer wird ebenfalls nichts gewusst haben
Machen wir es kurz. Niemand hat was gesehen, gehört oder geahnt. Nur das mit der Ruth, das ja. Dass die auf dem Strom Schollchen fahren war. Das war ja auch ziemlich dreist von ihr, sich mit dem Judenstern unter die deutsche Jugend zu wagen. Einer der HJ-Pimpfe habe sie angeschnauzt, dass Schollchenfahren für Juden verboten sei. Aber Ruth habe sich nicht um seine vergiftete Rede gekümmert. Da sind andere Pimpfe hinzugekommen und alle haben die Ruth hin und her geknufft. Schließlich sei ein größerer HJ-ler gekommen und habe sie wortlos in ein Wasserloch geschubst. Auf Ruths Hilferufe habe niemand reagiert. Auch nicht die Erwachsenen. Ja, traurige Geschichte war das. Damals. Aber na ja, was muss das Mensch mang de Deutschen gehen. So mit dem gelben Stern am Mantel. Das musste ja so kommen. Am nächsten Tag wurden die Eltern aus ihrer Wohnung in dem Haus aus roten Ziegeln abgeholt und in sogenannte Schutzhaft genommen. Damit sie sich nichts antun in ihrem Gram um ihre Tochter, hat es geheißen.
Foto Hans Blazejewski 2009 – hier Ballgardenstr. 23 in Tilsit/Sowetsk
Über die Straße kommt her der wurzellose Fisch, zu suchen den Laichplatz, den einst er gekannt. Geh, ruft´s ihm entgegen, du bist uns ein Fremder. Die einstmals gelebt hier, geholt hat sie der grimme Gevatter.
Ein Haus – fünf Wohnungen – fünf Schicksale,
eigenständig und doch miteinander verwoben. Mir kochen meine Emotionen über, wenn ich dieses, wenn man so will, soziale Zeitgemälde erneut lese. Machen Sie sich Ihren eigenen Reim, aber denken Sie nicht, dass das alles Fantasie sei, was ich da schrieb. In der damaligen Realität vielleicht nicht so konzentriert auf ein Haus, wie ich es darstelle, aber doch …
Ein Soldat der Deutschen Wehrmacht folgt seinem Marschbefehl. Er sagt: »Befehl ist Befehl.«
Ein Omchen erzählt einem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte.
Ein Kind übt den Stechschritt, kräht „Heil Hitler“ und seine Mutter schlägt die Hacken zusammen.
Ruth, eine Spielgefährtin, trägt einen gelben Stern. Sie wird in den Strom geschubst und ertrinkt. Die Täter lachen.
Dann ist da noch Salomon Honigbaum in der Kellerwohnung, den die Nazis abholen. Sie treten seine Wohnungstür ein, schreien »Raus du Judensau«. Als der seinen Mantel anziehen will, rufen sie: »Ziegenficker, lass hängen, den brauchst du nicht mehr. Es wird dir bald ganz warm werden. Wir geben dir so viel Feuer, dass du vergehen wirst vor lauter Hitze.« Dabei lachen sie, während sie dir ihre Gewehrkolben in den Rücken schlagen. Es geht ihnen wohl nicht schnell genug, das mit dem Feuermachen.
NACHREDE RUTH Sie wurde in den Strom geworfen. Sie konnte nicht schwimmen. Beseitigt wie Jungkatzen, unter das Eis geschoben, fortgespült wie Unrat. Ihr Nachruf: Spott, Häme, Hohngelächter. Sie trug einen gelben Stern.
Ruth, wir suchen dein nasses Grab, kommen dir zu singen ein Lied von den Wassern Babylons. Aber wie können wir das? Sag es Herr – sag es.
Erstarrt den Wolken nachschauend stehen wir vor den Aschehügeln, suchen im Rauch noch nach denen, die von uns genommen, ausgelöscht im Gewölk des Verglühens.
Rede Herr – rede, wie können wir singen die Lieder, wenn in den Harfen nistet der Wind? Ach – fern an fremden Ufern beweinen wir das Lämmlein, das von uns gegangen.
Ruth! Wer sich zu schämen hat, der soll sich schämen, schreib ich unter dein Bild und erinnere mich gelesen zu haben, »der Tod ist ein Meister aus Deutschland«.
Schreiben Sie mir Ihre Gedanken zu dieser Kurzgeschichte. Geht sie Ihnen auch „unter die Haut“? Oder glauben Sie: Das war damals und heute ist heute? Wenn, dann hätte ich dieses Gedicht für Sie, zum nachdenken :
WIE FRÜHER Sie blöken und schreien – wie früher und jeder von ihnen wurde doch von einer Mutter geboren
Sie blöken und schreien – wie früher Sie laufen durch Straßen und Gassen und brüllen sich heiser und schwitzen den Schweiß der Gewalt
Sie blöken und schreien – wie früher sie machen uns klar wer verrecken soll
Sie tragen Brandfackeln in ihren Köpfen und ließe man sie gewähren so liefen sie mit erhobenen Knüppeln bald auch mit tödlichen Waffen um auszurotten die anderen
Sie blöken und schreien – und denken wie früher bald werden sie handeln – wie früher und jeder von ihnen wurde doch von einer Mutter geboren
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