Letzte Aktualisierung am 14. Juni 2024 by Hans Blazejewski
Die Memel in der Nähe von Schmalleningken
Ermland-Blues – aus dem Inhalt
Fahrradsegeln, eine Erfindung meines Grossvaters.
Das mit dem Fahrradsegeln hab ich all selbst erfunden, erzählte er uns, der Ohm,noch ganz atemlos nach seinem angeblichen Segelabenteuer auf dem Damm der Memel, den die Tilsiter nur „Strom“ nannten. Das Omchen lacht nur und rief: »Johann, was hast‘ nu all wieder berissen«?
Folgen Sie mir mit dieser Leseprobe und lesen Sie über meinen Ohm, der ein rechter Filou gewesen ist. Das Omchen hat sich so manches mal die Haare gerauft, zum Beispiel, als das mit dem Totenhemd, noch auf ihrem Hof im Ermland, passiert ist. Aber seine Erfindung des Fahrradsegeln war der Hit. Wird wollten das gleich nachmachen, aber das Omchen hatte es uns untersagt. Dann hat sie gegrient und gerufen: »Nu Johann, willst nich mal die Bowkes aufm Gepäckträger mit nehmen?«
Ach, der Ohm, der Schachtmeister Johann. Erst hat er rausgemacht aus seiner geliebten Provinz, aus dem Ermland zu den memelländischen Sümpfen, wie wir schon erwähnt haben. Dann im Herbst 1944 trat er mit seiner Rosa eine unfreiwillige, lange Reise an. Eine Reise ohne Wiederkehr. Eine lange Reise mit vielen Seufzern, Achs und Wehs. Wohl auch mit heimlichen Tränen. Noch Jahre später.
Da saß er irgendwo bei den Sachsen unter einem Himmel, der nicht weit war. Und hoch schon gar nicht. Unter einem Himmel, der nicht der seinige war und auch nie wurde.
Pfeife im Mund, gefüllt mit selbst angebautem Knaster, nuschelte er vor sich hin, in seinem ermländisch-ostpreußischen Singsang, mit langem und rollendem R, ganz als würde er einen dieser grollenden Donnerschläge eines ermländischen Gewitters beschwören.
So ein Gewitterchen, das vorbeikommt. Kann sein aus dem Nichts. Kann sein auch bei klarem Himmel. Wie himmlischer Verschiebebahnhof. Wie bei der Eisenbahn. Güterwaggons, die über eine schiefe Ebene hinaufgeschoben wurden und auf deren Höhepunkt von unsichtbarer Hand und auf wunderbare Weise auf verschiedene Gleise verteilt wurden, auf denen schon Waggons warteten. Da gab es jedesmal einen gewaltigen Donnerschlag, wenn der eine Güterwagen auf die anderen traf. Einen Donnerschlag, der von Wagen zu Wagen als Echo weitergereicht wurde.Der Ohm macht eine Reise von Sachsen nach Tilsit
Und dann machte er seine „Reise“, der Ahne. Rückwärts, von Sachsen bis zu seinem geliebten Tilsit, seinem letzten Wohnort vor der Flucht.
Stand da vor uns, mit schon leicht zittrigen Knien, und erzählte seinen vaterlosen Enkeln, wie es sich anfühlte, wenn man dort und mehr noch auf der anderen Seite des Stroms, also im Memelländischen, auf einem Fahrrad saß, den Wind im Rücken, seine Jacke ausbreitete und sich vom Wind schieben ließ. Der Ahne, Erfinder des Fahrradsegeln.»Jungchens«, rief er, »das ging all ohne treten.« Er knöpfte seine Jacke auf, die Weste mit der goldenen Taschenuhr, die er retten konnte, die nicht. Hielt die Zipfel der Jacke in seinen Händen, breitete die Arme aus und wir wurden Zeugen, wie er mit geschlossenen Augen, die Pfeife im Mund, die alten Wege abfuhr. Freihändig, weil er ja die Jacke, sein Segel, festzuhalten hatte.
Mag sein, daß er gradewegs in die Jura, die Szeszuppe oder die Memel hineingefahren wäre, wenn das Omchen nicht in solchen Augenblicken die Tür aufzumachen pflegte, um zu rufen: »Na Johannche, bist all wieder unterwegs?« Da kam er zurück und stand wieder vor uns, der Ahne, der Schachtmeister Johann, Erfinder des Fahrradsegeln.
Und wenn wir riefen: »Ohm, mach uns eine Flöte«, ging er mit uns zur Pferdeschwemme, der sächsischen. Schnitt einige passende Zweige von einer Weide oder von einem Haselstrauch und nach allerlei Verrichtungen, ver bunden mit leichtem Klopfen mit dem Messergriff, war sie fertig. Kurz noch hineingeblasen und gut.
Hielten wir unsere Flöten in den Händen, war für uns der Ahne der beste Ahne aller Zeiten. Mit unseren neuen Instrumenten gaben wir ein Flötenkonzert, bei dem die Vögel nicht mehr mithalten konnten und die Hühner des Bauern bei ihrem Hahn um Schutz nachsuchten.
Dieser Johann war ein Filou wie kein Zweiter. Hat ihm nach 1945 geholfen, seine Schlitzohrigkeit, beim Überlebenskampf. Half sowohl beim Hasenfang mit Schlingen, als auch beim Kartoffeln besorgen. Kartoffeln besorgen ging so: (…)Leseprobe aus: Ermland-Blues – von Hurenkindern, einem katholischen Priester, einer Kräuterhexe und einer erträumten Heimat. Können Sie in jeder Buchhandlung bestellen oder direkt beim Sichtweise-Verlag, zum Preis von 11.90 €
Mein Tipp, wenn Sie sich schön gruseln wollen: Der Wolf, die Sau und das Omchen
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