Letzte Aktualisierung am 25. Juni 2024 by Hans Blazejewski
Wie Maria ihren Kopf verloren hat
Als die Front kam, da hat Maria ihren Kopf verloren, so sagt man.
Diese Marienstatue stand zu deutschen Zeiten in einem Dorf, das Neu Mertinsdorf im Kreis Allenstein, Ostpreußen, genannt wurde. Auf halbem Weg zwischen Allenstein und dem heutigen Augustowo gelegen. Heute muss ich den Fundort, politisch korrekt, mit Nowe Marcinkowo, Powiat Olsztyński, in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren, angeben.
Gefunden habe ich diese Maria ohne Kopf im Wohnhaus meiner Cousine Helene. Auf dem Dachboden.
Helene, längst totgestorben, war sie Zeugin der Ereignisse im Februar 1945, „als die Front kam“, wie man sagte. Sie war wohl auch die Retterin dieser Marienfigur.
Panienka kommen, riefen die Sieger
Die heutigen Einheimischen erzählen, dass die Mutter meiner Cousine von den Soldaten der Roten Armee erschossen wurde. Sie soll nicht schnell genug gekommen sein, wenn die Soldaten „Panienka kommen“ riefen. Vielleicht konnte sie nach der zwanzigsten Aufforderung nicht mehr oder nicht schnell genug kommen. Kann aber auch sein, dass sie mental gar nicht verstand was die Sieger von ihr wollten.
Die, die das Glück hatten zu überleben, sangen später zur Melodie von „Stand ein Soldat am Wolgastrand“ Verse wie diesen, wie Pani Czibulinska mir schrieb. Verse, die das ganze Elend beschreiben. Man kann die Bitterkeit einer wehrlosen Bevölkerung, insbesondere der weiblichen, darin erahnen.
Ach Mensch! Krieg ist Mist!
Als die deutschen Lanzer zogen von uns fort,
kam der Russe mit Hurra in unsren Ort.
Alle Fraun und Mädchen wurden da gleich alt,
doch der große Iwan kannte keinen Halt.
Uhr, Uhr, Uhr Panienka, war das erste Wort,
hätt man hundert, wäre man sie alle fort.
Immer hieß es:
Kommen, komm, Panienka, komm.
Packten uns beim Kragen, zogen uns davon.
Auf dem Groß Bartelsdorfer (Bartołty Wielkie) oder Bischofsburger (Biskupiec) Friedhof wird man Monikas Grab vergeblich suchen, denn sie liegt, verscharrt hinter der Scheune, auf ihrem damaligen Grundstück. Kein Pfarrer. Keine Blumen. Keine frommen Gebete. Kein Sarg. Kein Leichenzug mit Wagen und schwarzen Pferden. Bevor die Wölfe kamen, hastig in tiefgefrorener Erde bestattet. Drumherum nur eine Betoneinfassung, wie man sie in der Gegend als Umrandung für ein Grab benutzte.
Unter Holunderbüschen liegt sie, und wenn ich meiner Autorenfantasie folgen will, dann meine ich zu hören, wie sie mit den Krasnoludki, den Untererdschen, die, wie man weiß, unter und zwischen den Holunderwurzeln wohnen, spricht.
Ach Monika, Tantchen, dein elendes Ende geht mir noch immer schwer aufs Gemüt.
Sprechen wir lieber über meinen Fund
Die Neu Mertinsdorfer Maria soll in einer kleinen Kaplica gestanden haben. Ein Andachtshäuschen, in Sichtweite der befahrbaren Holzbrücke über den Dimmer.
Aber sehen konnte diese Maria ohne Kopf nicht, wer von Allenstein oder Bischofsburg kam, Besuch machen. Einmal, weil sie an drei Seiten von roten Ziegelmauern umgeben war, und zum anderen …
(…)
Übrigens hatten es die Ermländer mit der Maria. Gern ließ diese sich in Bäumen nieder. So gab es auch eine Erscheinung im damaligen Dietrichswalde. Dort huckte Maria in einem Baum und die beiden jungen Mädchen, denen sie angeblich erschienen war, kriegten sich nicht mehr ein. Man hat dann, wie auch in Heilige Linde, einen Wallfahrtsort daraus gemacht. Wie der Name schon andeutet, wurde sie ebenfalls in einer Linde entdeckt. Meines Wissens der einzige Baum, dem ein katholischer Heiligenstatus angedichtet wurde.
Die Zeiten haben sich gewandelt. Heute, in unserer weitgehend gottlosen Zeit, wallfahrtet man zum Beispiel zu Maria Schubidu, die mit allem, was sie hat, wackelnd auf der Bühne steht und nicht in einer Linde huckt. Da singen die Schafe zusammen mit dieser Maria: Blablabla statt oh Maria Hilf.
Wenn man es genau betrachtet, so hat sich nicht viel geändert seit Kain und Abel. Hass und Kriegsgeschrei wie immer, als hätten wir nichts gelernt aus der Weltgeschichte, die schon immer eine Geschichte der Gewinner und Sieger war. Darüber kann man schon seinen Verstand verlieren oder gleich den Kopf, besonders, wenn man sich auf der Seite der Verlierer befindet.
Passen Sie auf sich auf. Ihr Kopf ist wichtig. Ohne ihn sind Sie kopflos.
Mein Lesetipp: Lesen Sie über meine Ahnenlandschaft
Wenn Sie mehr über mich, Hans Blazejewski, den Autor, lesen möchten, was es mit dieser Maria ohne Kopf auf sich hatte, dann schauen Sie doch in mein neues Buch mit Kurzgeschichten, die man gelesen haben muss. Spannende Geschichten zwischen Damals und Heute erwarten Sie. Sehr zu empfehlen, z. B. auch zum Verschenken.
Zeitbrücke – Geschichten zwischen Damals und Heute
ISBN: 9783758373909
Paperback – 230 Seiten
Verlag: Books on Demand
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